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Möglichkeitsraum: Afro-Feminismus

Aktualisiert: 23. Juli 2023

Christina Cissokho im Gespräch mit Yvonne Apiyo Brändle-Amolo

Panel Talk vom 26. Mai 2023, Stadtbibliothek Winterthur


Die Beiträge von African Voices machen afrikanische Möglichkeitsräume sichtbar, eröffnen neue Horizonte und bereichern unser Handeln. Eine solche Haltung bezieht sich u.a. auf Felwine Sarr, der im Buch Afrotopia (S.15) schreibt: «Afrotopia ist eine aktive Utopie, die es sich zur Aufgabe macht, die gewaltigen Möglichkeitsräume innerhalb der afrikanischen Wirklichkeit aufzustöbern und sie fruchtbar werden zu lassen» (S.15).

Dieser Beitrag zeigt anhand des Afro-Feminismus neue Möglichkeiten auf.


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Afro-Feminismus mit Yvonne Apiyo Brändle-Amolo

Liebe Yvonne, du beschreibst dich als Femme-Artivistin. Was drückst du damit aus?

Zuerst definiere ich mich als Künstlerin. In der Kunst kann ich mich am Besten ausdrücken, um soziale und politische Anliegen sichtbar zu machen. Andere sagen mir, das meine Arbeit feministisch sei. Deswegen habe ich den Begriff Femme-Artivistin kreiert, der all dies umfasst: eine feministische-aktivistische Künstlerin.


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The most disrespected woman / Brändle-Amolo

Chimamanda Ngozi Adichie schreibt in ihrem Buch "Mehr Feminismus!" (S. 10): «Irgendwann war ich eine glückliche afrikanische Feministin, die Männer nicht hasst und Lippenstift und hohe Absätze zum eigenen Vergnügen und nicht zum Vergnügen der Männer trägt». Wie definierst du Afro-Feminismus für dich?

Natürlich habe ich das Buch auch gelesen und kann mich mit dieser Definition ebenfalls identifizieren. Wie Adichie in ihrem Buch schreibt, können sich viele Frauen in Afrika nicht mit dem Feminismus, wie er in Europa verstanden wird, identifizieren. Spannend ist aber, wie Beyoncé mit dem Lied ***Flawless Textpassagen von Adichie's Buch "We Should All Be Feminists" aufgenommen hat. Durch die Musik und den Text hat sich die Sicht in Afrika bezüglich einer eher ablehnenden Haltung gegenüber dem Feminismus verändert.


Ich habe dich gebeten, mir ein Buch zu Afro-Feminismus zu empfehlen. Du hast auf das Buch von Natasha A. Kelly «Schwarzer Feminismus» verwiesen. Weshalb ist das Buch für dich wichtig?

Natürlich gibt es viele wichtige Bücher und in der Frage, was der Unterschied zwischen Schwarzem Feminismus und weissem Feminismus ist, gibt dieses Buch eine gute Antwort.


Im von dir erwähnten Buch von Kelly gelingt es der Autorin aufgrund historischer Tatsachen für Afro-Amerikaner*innen zu zeigen, weshalb Schwarzer Feminismus mit und nicht gegen Männer kämpft. Sie erklärt: Während des Sklavenhandels wurden Afro-Amerikanerinnen gleich, wenn nicht härter bestraft als Männer – die Männer waren Verbündete. Ein weiterer Punkt den Kelly beschreibt: Widerstände von Schwarzen Frauen wurden nie sichtbar gemacht – sie wurden verschwiegen. Kelly nennt unzählige Beispiele für Schwarzen weiblichen Widerstand und zeichnet dadurch das Bild von aktiven Schwarzen Frauen.

Gerne möchte ich mit dir diese zwei Punkte in Bezug auf den afrikanischen Kontext besprechen und mit dem Beispiel Kenia greifbar machen. Wie stehst du zu diesem integrativen Ansatz des Schwarzen Feminismus und was sagst du zur Unsichtbarkeit von Schwarzen Frauen?

Für mich und für viele Frauen mit afrikanischen Wurzeln ist es wirklich schwierig zu sagen, ich bin Feministin und wir kämpfen gegen das Patriarchat, aber nicht zusammen mit unseren Männern. Schwarze Frauen erleben so viele verschiedene Facetten von Diskrimierungen (Rassismus, Sexismus, Klasse, etc.). Und leider leiden nicht nur wir, sondern auch unsere Männer darunter. Deshalb macht ein Ausschluss des Mannes für uns häufig keinen Sinn.

Wenn wir also die ganze Diskriminierungshierarchie anschauen, dann sind die Schwarzen Frauen ganz unten in dieser Hierarchie und die Schwarzen Männer nur leicht darüber. Deshalb haben wir entschieden, die Männer mitzunehmen. Der Afro-Feminismus entspringt den Strömungen der früheren Denkhaltung des Womanism. Der Kern von dieser Bewegung ist eher die Familie, weil wir die ganze Familie zu schützen versuchen. In dieser Denkhaltung sind natürlich auch unsere Kinder integriert, um auch sie zu schützen. Das ist also eine ganz andere Art von Feminismus, der nicht nur integrativer ist und Kinder wie Männer in den Feminismus miteinbezieht, sondern auch die Intersektionalität anerkennt. In der Diaspora ist diese Situation zugespitzt, da sind wir noch mehr den unterschiedlichen Diskriminierungsformen, wie ich sie beschrieben habe, ausgesetzt.

Ich wusste schon immer, dass ich eine Frau bin. Als ich jedoch in die Schweiz gekommen bin, da wurde mir bewusst, dass ich eine Schwarze Frau bin und nicht einfach mehr nur eine Frau. Es ist mir bewusst, race kommt vor dem Geschlecht - zumindest in der Diaspora.

Ich hoffe, diese Überlegungen helfen, den integrativen Ansatz des Afro-Feminismus besser zu verstehen.


Um auf deine andere Frage bezüglich der unsichtbar gemachten Schwarzen Frauen einzugehen: Es gibt und es gab schon immer starke Schwarze Frauen. Und ja man sieht diese Frauen nicht, weil die Geschichte anders erzählt wurde - nämlich aus der Sicht dieser "white lens", dieser weissen Perspektive. Es gibt dank der afrofuturistisch-feministischen Bewegung nun auf Netflix Serien wie die Doku-Serie "African Queens: Njinga" (von Jada Pinkett Smith) der von Angola handelt oder den Film "The Woman King" der Agojie-Kriegerinnen aus Benin, die beide zeigen, wie afrikanische Frauen mit Erfolg gegen den Kolonialismus gekämpft haben. Diese Geschichte kennen meistens nur die Menschen aus den betreffenden Ländern, in Europa aber sind diese Held*innengeschichten nahezu unbekannt. Die Afro-Futurismus-Bewegung erzählt die Geschichte neu und bringt die Schwarze Perspektive ein, die bislang negiert wurde. Für unsere Kinder und damit die Zukunft ist dies sehr wichtig.


Ist diese Perspektive auf starke afrikanische Frauen hier in der Schweiz einfach ausgeblendet oder existiert sie z.B. in Kenia?

Ich würde sagen, dass in Kenia Frauen als stark wahrgenommen werden und sie auch sichtbar sind. Spontan fällt mir die online Bewegung #mydressmychoice ein, die viral ging, nachdem eine Frau vergewaltigt wurde, weil sie einen Minirock trug, den einige Busfahrer als verlockend empfanden. Die Bewegung wurde von Frauen organisiert, die durch die Strassen gingen und rechtliche Gerechtigkeit für die Frau und die Freiheit forderten - insbesondere bei der Wahl ihrer Kleidung. Diese Bewegung veranlasste nicht nur die Regierung zum Handeln, sie verbreitete sich wie ein Lauffeuer und erhielt moralische, öffentliche und finanzielle Unterstützung aus der ganzen Welt. Die meisten westlichen Feministinnen haben einen falschen Eindruck, wenn sie glauben, dass afrikanische Frauen unterwürfig und fügsam seien, nur weil wir unseren Feminismus anders zum Ausdruck bringen!


Als ein weiteres Beispiel einer Frau, deren Tätigkeit bedeutend für die Menschheit ist, möchte ich Wangari Maathai nennen. Sie war eine Professorin und Umweltaktivistin und hat bereits 1977 das Aufforstungsprojekt "Green Belt Movement" ins Leben gerufen und sich schon damals für eine Klimapolitik eingesetzt. Ihre Arbeit war bereits in frühen Jahren in Kenia bekannt. Allerdings erhielt sie erst 2004 die internationale Anerkennung, die ihr gebührte, und zwar mit dem Friedensnobelpreis, den sie als erste afrikanische Frau (!) erhalten hat!


Was kann der weisse und eurozentristisch geprägte Feminismus vom Afro-Feminismus lernen?

Grundsätzlich sollten Frauen sich wirklich miteinander solidarisieren und miteinander arbeiten. Aber: weisse Frauen profitieren vom Status Quo aufgrund ihrer Nähe zum Patriarchat und aufgrund ihres Weissseins, das weisse Frauen mit weissen Männern verbindet. Und aufgrund dieser Vorteile, die weisse Frauen nicht verlieren wollen, fällt es ihnen häufig schwer, sich den Afro-Feministinnen anzuschliessen. Vielfach vergessen weisse Frauen, die nur auf das Patriarchat fokussiert sind, dass wir gemeinsam viel mehr erreichen könnten, statt nur das Patriarchat zu bekämpfen.

Für uns Schwarze Menschen aber braucht eine Zusammenarbeit auch ein Weg des Vertrauens, d.h. ein Aufarbeiten der Geschichte und ein Anerkennen, dass diese für Schwarze Menschen leidvoll war und bis heute in Diskriminierungsformen weiter aufrechterhalten wird.


Liebe Yvonne, ich danke dir herzlich für das offene Gespräch. Auf die Frage, wie dieses Vertrauen aufgebaut werden könnte, hilft es vor Augen zu führen, das Zuhören der erste Schritt ist, einander wirklich zu begegnen oder wie Chimamanda Ngozi Adichie schreibt:


«Nach den vielen Dingen, die ihr nicht tun sollt, was sollt ihr tun? Ich bin nicht sicher. Zuhören vielleicht. Hören, was gesagt wird»

(Chimamanda Ngozi Adichie, Americanah, S. 414).

 

Hinweise

race: Lehnwort aus dem Englischen, welches statt seiner deutschen Übersetzung verwendet wird. Der Begriff ist als soziale Konstruktion zu verstehen und nicht, wie der deutsche Begriff "Rasse" suggeriert, als biologisches Konzept.


Schwarz: wird als Selbstbezeichnung Schwarzer Menschen und soziale Kategorie gross geschrieben.


Weiss: wird kursiv geschrieben, um auf die gesellschaftliche und soziale Dimension des Weissseins hinzuweisen und damit auf eine dominante und privilegierte Position innerhalb unseres globalen Systems.

(vgl. weitere Ausführungen bei Rafia Zakaria)


Literaturangaben

Adichie, Chimamanda Ngozi (2014). Americanah. S. Fischer Verlag GmbH.

Adichie, Chimamanda Ngozi (2021). Mehr Feminismus! Ein Manifest und vier Stories. Fischer Taschenbuch.

Kelly, Natasha A (2022). Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte. UNRAST-Verlag.

Miano, Léonora (2022). Sisterhood. Für einen anderen Dialog zwischen den Frauen der Welt. Aufbau Verlage GmbH.

Sarr, Felwine (2020). Afrotopia. Matthes & Seitz Berlin.

Zakaria, Rafia (2021). Against White Feminism: Wie weisser Feminismus Gleichberechtigung verhindert. Carl Hanser Verlag GmbH.







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